Die Rothenfußer-Wohngemeinschaft ist ein Modellprojekt zur Betreuung pflegebedürftiger Demenzkranker mit einem Bleiberecht bis zum Tod, das auch vom SZ-Adventskalender schon bedacht wurde: Er spendete eine Sitzecke. Möglich wurde die neue Betreuungsform durch die finanzielle Unterstützung der Jacob und Marie Rothenfußer Gedächtnisstiftung. Anders als im Heim komme den Angehörigen in der Wohngemeinschaft ein besonderes Mitspracherecht zu. "Man kann es fast mit einer Elterninitiative vergleichen", beschreibt Reder die Arbeitsweise.
Alzheimer-WG Glücksgriff für alle
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Adminintrator
on Freitag, 19. August 2011
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Coole-WG-Projekte
Von Gudrun Passarge
In der Münchner Rothenfußer-Wohngemeinschaft wohnen pflegebedürftiger Demenzkranke zusammen. Hier werden ihre Eigenheiten und die Angehörige entscheiden mit, was immer in der WG passiert.
"Sah ein Knab' ein Röslein stehen" singt die Frauenrunde, nicht immer mit dem richtigen Ton, nicht immer mit dem richtigen Text, aber mit viel Freude. Sechs Frauen mit schlohweißen Haaren, die meisten von ihnen im Rollstuhl, sitzen am riesigen Esstisch vor ihren Blümchen-Kaffeetassen und singen voller Freude. Eine siebte Frau, die jüngste in der Wohngemeinschaft, übt lautstarken Protest. Diese Art von Liedgut ist nicht nach ihrem Geschmack, sie bevorzugt Elvis. Alltag in der Rothenfußer-Wohngemeinschaft für verwirrte ältere seelisch behinderte Menschen in München.
Ulrike Reder ist Projektleiterin der Wohngemeinschaft und Geschäftsführerin des Vereins Carpe Diem, der die Betreuung in der WG stellt. "Das hier ist in erster Linie ein Ort des Wohnens, nicht des Gepflegtwerdens", sagt sie. Deswegen gestaltet jede Bewohnerin ihr Zimmer nach eigenen Wünschen, deswegen versuchen Betreuer und ehrenamtliche Helfer, einen ganz normalen Alltag mit den Seniorinnen zu leben. Sie helfen bei täglichen Arbeiten wie Kochen und Einkaufen und natürlich bei der Körperpflege. Die Bewohnerinnen, sie sind zwischen 60 und 90 Jahre alt, würden mit ihren biographischen Eigenheiten angenommen und akzeptiert.
Die Rothenfußer-Wohngemeinschaft ist ein Modellprojekt zur Betreuung pflegebedürftiger Demenzkranker mit einem Bleiberecht bis zum Tod, das auch vom SZ-Adventskalender schon bedacht wurde: Er spendete eine Sitzecke. Möglich wurde die neue Betreuungsform durch die finanzielle Unterstützung der Jacob und Marie Rothenfußer Gedächtnisstiftung. Anders als im Heim komme den Angehörigen in der Wohngemeinschaft ein besonderes Mitspracherecht zu. "Man kann es fast mit einer Elterninitiative vergleichen", beschreibt Reder die Arbeitsweise.
Angehörige entscheiden mit, was immer in der WG passiert -- bis hin zum möglichen Ausschluss eines Bewohners bei unüberwindbaren Problemen. Das Angehörigengremium trifft sich etwa alle zwei Monate. Da kann es schon mal vorkommen, dass stundenlang über die richtige Mineralwassersorte gestritten wird. Und natürlich wird hier auch geprüft, wer die Bewohnerinnen betreut und wie das geschieht.
"Das ist ein Paradigmenwechsel", findet Ulrike Reder. "Die Profis sind hier Gäste", sagt sie in Bezug auf das Pflegepersonal. "Alles ist aushandelbar. Die Angehörigen sitzen mit uns im Boot und müssen mit uns rudern."
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Das ging natürlich am Anfang nicht ganz ohne Probleme ab, "beide Seiten mussten lernen, aufeinander zuzugehen." Irene Lehrhuber ist eine der Angehörigen. Ihre Mutter kam vor zwei Jahren in die WG. Für die Tochter wäre es nie in Frage gekommen, die Mutter "in ein Doppelzimmer zu stecken". Sie empfindet die Rothenfußer Wohngemeinschaft "immer noch als Glücksgriff". Seit ihre Mutter hier lebt, sei sie "sanft wie ein Lamm -- früher konnte ich ihr nie etwas recht machen".
Die Mitarbeit in der Gemeinschaft bezeichnet sie als "angenehm", zudem habe sie viel über die Krankheit der Mutter gelernt. "Man bekommt hier erklärt, wie man mit der Mutter umgehen muss."
Reder und Lehrhuber berichten nur Positives vom Modellversuch. Reder sieht es gar als "Chance für die Gesellschaft", solche Wohnformen zu entwickeln. Einen Haken hat die Sache allerdings: Die Kooperation der Bauträger und Vermieter war bisher eher mangelhaft. Zwei Jahre lang musste Ulrike Reder nach geeigneten Räumen suchen. "Es ist eine Katastrophe in München", schimpft die Projektleiterin. Bauträger lehnten es ab, an die WG zu vermieten: "Sie halten es für die anderen Mieter für unzumutbar. Das ist ein Gesellschaftsproblem."
So war man schließlich um die Räume in der Chiemgaustraße froh -- wenn auch nur auf Zeit. Doch die Stiftung wollte sich langfristig nach einem Domizil umschauen, das auch baulich die Besonderheiten der Wohngemeinschaft widerspiegelt. Stiftungs-Vorstand Paul Rothenfußer ließ ein zweigeschossiges Haus entwerfen, in dem zwei Gruppen mit je sieben Bewohnern Platz haben werden. Nur bauen wollte es niemand. "Die Bauträger hatten Angst, dass die Nachbarn klagen könnten", sagt Ulrike Reder. Auch die Stadt München habe sie nicht optimal unterstützt, lediglich die Kontakte zu den Bauträgern vermittelt , "aber die Stadt muss ganz klare Ansagen machen, dass Wohngemeinschaften in Häuser integriert werden müssen."
Doch zum Glück traf die Geschäftsführerin von Carpe Diem bei ihren Gesprächen auf Christian Maly-Motta, Geschäftsführer der Guter Wohnungsbau Bauträger GmbH & Co. Betriebs-KG. Er, der als Zivi in einer geschlossenen Abteilung gearbeitet hatte, setzte sich persönlich für das Anliegen der Stiftung ein. Inzwischen ist der Baubeginn erfolgt, das Haus auf einem 1250 Quadratmeter großen Grundstück in der Messestadt Riem neben der Buga soll im Oktober bezogen werden. Ein erster Schritt, aber Paul Rothenfußer sieht die Gesellschaft zusätzlich in der Pflicht. "Wir wollen dahin wirken, dass die Verantwortung für die Demenzkranken gemeinsam getragen wird." Immerhin leben mehr als eine Million Betroffener in Deutschland.
Aus dem Wohnzimmer ist vielstimmiger Gesang zu hören. "Muss i denn zum Städtele hinaus." Zum Glück nicht.
SIE SIND JETZT AUF
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